Der Gedenkstein auf dem Jüdischen Friedhof Wankheim und Viktor Marx

von Wolfgang Sannwald

Der prominenteste Stein auf dem Jüdischen Friedhof Wankheim steht unmittelbar nach dem Eingang auf der rechten Seite. Quer über den Gedenkstein steht: “Dies sind die Opfer der Gemeinde Tübingen welche von den Nazi gemordet wurden”. Darunter sind 14 Namen in zwei Spalten gereiht. Der Text macht klar, dass dieser Stein keinen Ort kennzeichnet, an dem Leichname bestattet liegen, es ist kein Grabstein. Vielmehr handelt es sich um einen Gedenkstein. Diesen ließ der Überlebende der Shoah Viktor Marx 1946 aufstellen. Um die erinnerungskulturelle Tiefe dieses Gedenksteins geht es in einem Artikel von Wolfgang Sannwald, der 2024 im Buch Manuel Mozer (Hg.): Jüdisches Leben in Wankheim. Gegeneinander – Nebeneinander – Miteinander. Festschrift zum 250-jährigen Jubiläum der Gründung der Jüdischen Gemeinde Wankheim, erscheint. Dort ist der ausführliche Text mit zahlreichen Quellenbelegen zu finden. Hier folgt eine um drei Viertel gekürzte Fassung.

Der Stein steht einerseits für eine eine individuelle erinnerungskulturelle Perspektive des Stifters Viktor Marx. Andererseits fügt sich der Gedenkstein in das Kollektiv einer israelitischen Memorialgemeinschaft von Vorfahren, Verstorbenen und Überlebenden ein. Viktor Marx wurde am 10. Juli 1903 in Baisingen geboren. Seine Eltern zogen 1906 nach Tübingen, wo der Vater in der Herrenbergerstraße 46 einen Viehhandel betrieb. Viktor Marx Vater Liebmann starb am 10. September 1923, sein Grab befindet sich auf dem Jüdischen Friedhof Wankheim. Viktor Marx führte wohl vier Jahre lang den väterlichen Viehhandel des Vaters fort und eröffnete 1928 gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Egon im elterlichen Haus einen Handel mit Aussteuerartikeln.

Viktor Marx heiratete am 29. Januar 1932 Marga Rosenfeld, die aus Aub, heute einer Stadt im Landkreis Würzburg, stammte. Marga und Viktor Marx bekamen am 12. Juli 1933 in Tübingen ein Kind, die Tochter Ruth. Die Behörden stellten Viktor Marx seit 1938 keine Legitimationskarte mehr aus, so dass er sein Geschäft „als Reisender“ nicht länger betreiben konnte. In Tübingen fand er keine Stelle mehr, da „keiner einen Juden aufnehmen“ wollte oder die Deutsche Arbeitsfront dies unterband. Die Jüdische Gemeinde Stuttgart vermittelte ihm schließlich Arbeit, wohin Viktor Marx zunächst alleine umzog. Seine Frau und die Tochter Ruth gingen zunächst zu ihren Eltern nach Aub. Die angestrebte Auswanderung gelang nicht. Nach der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 verlor Viktor Marx diese Perspektive vollends.

Marga und Ruth Marx waren wohl am 15. November 1938 bei Viktor Marx in Stuttgart. Morgens um 6 Uhr, „gerade als er unter der Dusche war“, kamen „die Nazis“, „trennten ihn von seiner Familie” und verhafteten ihn. Viktor Marx wurde im „Polizeigefängnis“ Welzheim, einem frühen Konzentrationslager, bis zum 4. Januar 1939 inhaftiert. Während Marga Marx nach Stuttgart umzog, schickten sie ihre Tochter Ruth zu ihrer Großmutter väterlicherseits Blanda Marx nach Héricourt in Frankreich, wo sie bis Juni 1941 blieb. Nach seiner Freilassung aus dem KZ Welzheim arbeitete Viktor Marx vor allem für ein Baugeschäft.

Viktor Marx und seine Familie bekamen am 15. September 1941 von der Gestapo den Bescheid, „dass Stuttgart Judenrein gemacht werden würde und wir nach Haigerloch umgesiedelt werden würden.“ Der Zwangsumzug fand wohl am 9. Oktober 1941 statt. Nach Erinnerungen von Viktor Marx bekamen „wir alle“ am 19. November 1941 von der Gestapo ein Schreiben, „dass wir deportiert werden“. Der Name von Viktor Marx steht gemeinsam mit dem seiner Frau Marga und dem ihrer Tochter Ruth in einem „Verzeichnis der aus dem Landkreis Hechingen am 27.11.1941 evakuierten Juden“. Der Transport endete zunächst in Stuttgart, in einer leerstehenden Halle auf dem Gelände der früheren Reichsgartenschau auf dem Killesberg. Am 1. Dezember 1941 ging der Transport mit 1000 Menschen vom Nordbahnhof in Stuttgart nach Riga in Lettland ab, wo der Transport am 4. Dezember 1941 ankam: „Die SS stand da, jeder hatte einen Stock in der Hand, so dass wir dachten, dies seien Verwundete. Als wir aber geschlagen wurden, so spürten wir gleich am eigenen Leibe, dass wir es mit kerngesunden Nazis zu tun hatten.“ Die Deportierten mussten in das KZ „Gut Jungfernhof“ bei Riga. Viktor Marx berichtete in einem Brief an die Tübingerin Lilli Zapf 1964 als Augenzeuge vom weiteren Schicksal seiner Frau Marga Marx und seiner Tochter Ruth Marx: „So kam der 26. März 1942. Es wurde uns gesagt, dass alle Frauen mit Kindern vom Jungfernhof wegkommen würden und zwar nach Dinamuende, dies ist eine Stadt die es in Lettland wohl gibt.“ Marga und Ruth Marx gehören den Umständen und dem Datum ihrer Verladung nach zu den Mordopfern der Massenerschießung im Wald Biķernieki bei Riga an diesem Tag. Die Namen von Marga und Ruth Marx stehen ganz oben in der ersten Spalte des Gedenksteins auf dem Jüdischen Friedhof Wankheim.

Viktor Marx blieb bis zum 20. Februar 1944 im KZ Jungfernhof inhaftiert. An die Haftzeit im KZ Jungfernhof schloss sich eine Folge von weiteren KZs an: Pikko-Kalm bei Oger in Lettland, Kaiserwald bei Riga (Juli 1944), Stutthof bei Danzig (August 1944), Buchenwald (August 1944), Kommando Tröglitz des KZ Buchenwald (September 1944), Rehmsdorf bei Zeitz in Thüringen (bis April 1945), Leitmeritz (April 1945) und Theresienstadt (bis Mai 1945). In dem Aufsatz wird ausführlich aus den Erinnerungen von Viktor Marx zu dieser Zeit bis zu seiner Befreiung im Ghetto Theresienstadt am 8. Mai 1945zitiert. Bei der Befreiung wog Viktor Marx nach eigenen Angaben 54 Kilogramm, vor seiner Einlieferung ins Konzentrationslager hatte er 72 Kilogramm gewogen.

Nach seiner Befreiung kehrte Viktor Marx Anfang Juli 1945 von Theresienstadt mit einem Omnibus nach Stuttgart zurück. Dort heiratete er am 25. November 1945 Hannelore Kahn, die mit demselben Transport wie Viktor Marx und seine Familie nach Riga deportiert worden. Sie wohnten in einem Lager der UNRRA in Stuttgart-Degerloch. In dieser Zeit eröffnete Viktor Marx gemeinsam mit Willy Hipp aus Eningen einen Lebensmittelgroßhandel in Kirchheim unter Teck. Hipp im Rückblick: “Unser Unternehmen florierte vor allem in den ersten Monaten nach seiner Eröffnung ausgezeichnet.” 1945 hatten sie mit Wein, Obst, Gemüse und Kartoffeln gut verdient. In dem Aufsatz geht es ausführlich um dieses Unternehmen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Hannelore Marx wollte „so schnell wie nur möglich weg”, sobald ein amerikanisches Konsulat die erforderlichen Papiere ausgestellt hätte. Etwa im Mai 1946 schied Viktor Marx aus der Firma aus. Viktor Marx und seine Frau Hannelore emigrierten am 9. Mai 1946 von Bremen aus an Bord des Schiffes Marine Flasher mit Bestimmungsort Bronx, New York, wo das Schiff am 20. Mai anlandete. 1951 wurde Viktor Marx amerikanischer Staatsbürger. Das neue jedoch schwierige Leben in den USA wird in dem Aufsatz breit dargestellt. In den USA kam nach circa zehn Jahren eine Krankheit bei Viktor Marx zum Vorschein, die Ärzte zumindest teilweise auf seine KZ-Haft zurückführten. Er nahm 1957 eine Stelle als Liftboy in einem Privathaus an, in dem vielfache Millionäre wohnten. Der Schriftverkehr von Viktor und Hannelore Marx mit dem Wiedergutmachungsamt in Stuttgart zeugt von erheblichen wirtschaftlichen Problemen der Familie. Viktor Marx beklagte vor allem die Dauer der Bearbeitung seiner Entschädigungsanträge: “Hitler war im nehmen u. wegrauben schneller, als die Bundesregierung im geben.” Nach mehreren vorangehenden Teilentschädigungen bewilligte die deutsche Viktor Marx eine monatliche Rente. Viktor Marx starb am 25. April 1984 um 8 Uhr vormittags. Er wurde am 26. April auf dem Beth El Cemetery Paramus, New York, bestattet.

Viktor Marx bekannte sich in einem Brief an die Tübingerin Lilli Zapf 1971 als Urheber des Gedenksteins auf dem Jüdischen Friedhof Wankheim: „Solches habe ich vor meiner Auswanderung nach USA errichten lassen.“ Das Denkmal führte der Tübinger Steinhauer Krauss aus. Viktor Marx fasste den Plan für den Gedenkstein auf dem Wankheimer Jüdischen Friedhof wohl bereits Ende 1945. Der Wankheimer Gedenkstein muss Viktor Marx ein dringendes Bedürfnis gewesen sein. Im Juli 1945 kam er nach Stuttgart zurück und seit September 1945 betrieb er einen Lebensmittel-Großhandel. Er war von Herbst 1945 bis Anfang 1946 intensiv mit dem Aufbau der Firma Marx&Co beschäftigt, pendelte damals arbeitstäglich unter den Mangelbedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit zwischen Stuttgart-Degerloch und Kirchheim/Teck. Viktor Marx konnte den Gedenkstein wohl finanzieren, weil seine Firma Marx&Co in Kirchheim/Teck 1945 gute Erträge abwarf. Bereits die Auftragsvergabe für den Gedenkstein führt in eine Zeit, in der Viktor Marx nach eigenen Aussagen einmal in der Woche zu den Ärzten wegen Kopfschmerzen, Alpträumen, Schlaflosigkeit, allgemeinen Schmerzen und Depression ging. In den Wiedergutmachungsakten aus der Nachkriegszeit finden sich drei umfangreiche medizinische Gutachten zu Viktor Marx aufgrund persönlicher Untersuchung. Zumindest einige der festgestellten Beschwerden erkannte das Amt für Wiedergutmachung letztlich als verfolgungsbedingt an.

Viktor Marx hat den Gedenkstein auf dem Jüdischen Friedhof Wankheim nicht nur Angehörigen seiner eigenen Familie oder seinen Tübinger Verwandten und Bekannten gewidmet. Er hat ihn den Opfern der Shoah aus Tübingen ingesamt gewidmet. Er setzte den Namen der Opfer insgesamt einen Gedenkstein an dem Ort, an dem die Namen von Vorfahren auf ihren Grabsteinen präsent sind. Und er tat dies als erster in Württemberg. In dem Aufsatz geht es auch darum, dass ein Freund von Viktor Marx, Harry Kahn aus Baisingen, ebenfalls Gedenksteine auf zwei Friedhöfen in Rexingen und Baisingen stiftete. Im Fall des Baisinger Gedenksteins stellte der damalige Landesrabbiner Dr. Heinrich Guttmann die Funktion in den Zusammenhang mit der Fortdauer des „Ungeists“ des Dritten Reiches. Dieser äußere sich „in wiederholten Friedhofsschändungen, im Bestreben vieler Menschen, die Nazimörder im Gerichtsverfahren zu beschützen und ihre Untaten zu beschönigen“. Man werde „zu den Mahnmalen wallfahrten in dem Bewußtsein, daß das Andenken der heiligen Märtyrer zum Segen gereicht“.

Viktor Marx emigrierte zu einem Zeitpunkt aus Deutschland, als der Gedenkstein noch nicht auf dem Jüdischen Friedhof Wankheim aufgestellt war. Er hat ihn selbst nie vor Ort gesehen. Lilli Zapf schickte dem Stifter am 13. September 1966 eine Fotografie des Gedenksteins zu, „die leider etwas schief ausgefallen ist, aber die Namen sind doch gut lesbar. Es stehen immer Blumen davor und der ganze Friedhof, der ja eine wunderschöne Lage hat, ist sehr gut gepflegt.“

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