Novemberpogrome 1938 – Das Schicksal der Tübinger Jüdinnen und Juden

Autorin: Linda Kreuzer

„Mitte Dezember, früh am Morgen, kehrte mein Vater aus Dachau zurück. Wir waren erschüttert über sein Aussehen: Die Haare waren kurzgeschoren, der Anzug hing lose an seinem abgemagerten Körper, die Wangen waren eingefallen.“ So erinnerte sich Liselotte Spiro Jahre später an die Ereignisse der Reichspogromnacht 1938.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 löste die NS-Führung eine Welle der Zerstörung und Gewalt aus. Vor allem SA-Männer und Angehörige anderer NS-Organisationen brannten im Gebiet des heutigen Baden-Württembergs von 151 Synagogen etwa 60 Synagogen nieder und demolierten 77 weitere. Sie verwüsteten zahlreiche jüdische Geschäfte. Deutschlandweit wurden über 30 Tausend Jüdinnen und Juden in Konzentrationslager deportiert.

Im November 1938 gehörten in Tübingen noch etwa 38 Menschen, davon etwa 16 erwachsene Männer der jüdischen Gemeinde an. In Tübingen war zum Zeitpunkt der Reichspogromnacht ein großer Teil der als Juden verfolgten Menschen emigriert. Die jüdischen Geschäfte waren im Zuge der Arisierung an Deutsche „verkauft“ worden. Das Hauptziel des NSDAP-Kreisleiters, neun anderer Männer und einer Frau war die Tübinger Synagoge in der Gartenstraße. Kreisleiter Hans Rauschnabel und die drei SA-Männer Schneider, Lutz und Katz steckten die Synagoge in Brand. In den Tagen danach wurden sieben Tübinger Juden verhaftet: Der 62-jährige Leopold Hirsch, der 60-jährige Albert Schäfer, der 40-jährige Hans Spiro, der 58-jährige Josef Zivi und der 27-jährige Fritz Erlanger. Benigna Schönhagen zählt den 36-jährigen Victor Marx und den 43-jährigen Lothar Marx zu diesen Verhaftungen dazu (Verhaftung bei Stuttgart).

Bis auf Victor Marx wurden alle nach Dachau deportiert. Dieser kam in das Konzentrationslager Welzheim. Dort wurden sie mehrere Wochen festgehalten, schwer misshandelt und schikaniert. Ende November, Anfang Dezember wurden sie aus der Haft entlassen und konnten nach Tübingen zurückkehren, allerdings unter der Voraussetzung Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen. Nur zweien gelang die Rettung ins Ausland. Leopold Hirsch emigrierte im Frühjahr 1939 mit seiner Frau nach Johannesburg in Südafrika, wo er bis zu seinem Tod 1966 lebte. Josef Zivi emigrierte im April 1939 mit seiner Frau nach Tel-Aviv, Israel.

Den anderen 1938 Inhaftierten gelang die Emigration nicht. Albert Schäfer starb 1941 an den Folgen der in Dachau erlittenen Misshandlungen in Tübingen. Sein Grab ist auf dem Jüdischen Friedhof in Wankheim. Fritz Erlanger wurde nach seinem Umzug nach Hannover 1941 nach Riga deportiert und im KZ Stutthof Anfang Oktober 1944 ermordet. Hans Spiro wurde im November 1939 erneut für wenige Tage verhaftet und am 4.12.1942 ein drittes Mal. Er wurde zunächst ins KZ Welzheim deportiert und von dort aus am 27.1.1943 nach Auschwitz, wo er nur wenige Monate später ermordet wurde. Victor Marx überlebte als einziger Tübinger Jude. Nach der Freilassung aus Welzheim wurde er am 1.12.1941 nach Riga deportiert. Von diesem Zeitpunkt aus überlebte er sechs Konzentrationslager. Im Mai 1945 wurde er in Theresienstadt durch die Sowjetunion befreit. Er wanderte mit seiner neuen Frau Hannelore, die ebenfalls viele Konzentrationslager überlebte, in die USA aus.

 

Quellen:

Goll, Thomas/ Landeszentrale für politische Bildung (Hg.): Die inszenierte Empörung, Bonn 2010.

Schönhagen, Benigna: Tübingen unterm Hakenkreuz: eine Universitätsstadt in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1991.

Zapf, Lilli: Die Tübinger Juden, 3. Aufl., Tübingen 1981.

https://www.lpb-bw.de/pogrome-suedwesten (zuletzt: 09.11.2022)

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