Tübinger Fensterskulptur in antifaschistischer Fotomontage

Von Jérôme Seibert

Die Darstellung des Martyriums des Heiligen Georgs an der Außenwand der Stiftskirche in Tübingen ist zentraler Bestandteil einer Fotomontage des renommierten Dadaismus-Künstlers John Heartfield (1891-1968). Der Kunsthistoriker Anthony Coles bezeichnet diese Fotomontage als eine der „bemerkenswertesten Fotomontagen Heartfields überhaupt“ und als eine der „ganz wenigen, großartigen und zeitlosen Fotomontagen, die Heartfield geschaffen hat.“
Die 1934 entstandene Montage (hier findet sich eine Abbildung) hat zwei Bestandteile. Die obere Hälfte besteht aus einer Nahaufnahme der Tübinger Skulptur, die als Maßwerk Teil der Stiftskirche ist. Sie zeigt den Heiligen Georg als Folteropfer. Sein Körper ist auf ein Rad gebunden und gebrochen. Die untere Hälfte der Montage zeigt das Foto eines beinahe unbekleideten Mannes, der ebenfalls gebrochen wird. Allerdings tritt an die Stelle des Rads das Hakenkreuz als Folterinstrument. Gerahmt ist die Montage mit dem titelgebenden Satz „Wie im Mittelalter… so im Dritten Reich“. So betont Heartfield den visuellen Vergleich auch textlich.
John Heartfield, eigentlich Hellmuth Herzfeld, war ein bedeutendes Mitglied der Kunstbewegung des Dadaismus. Er zeichnete sich durch eine Vielzahl innovativer Fotomontagen aus, die ab Mitte der zwanziger Jahre auch politischer Natur waren. Als Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) der ersten Stunde und bekannter Gegner des Nationalsozialismus floh er 1933 nach Prag. Dort entstand auch 1934 die Montage mit dem Tübinger Geräderten. Sie erschien in der Arbeiter Illustrierte Zeitung, einer KPD-nahen Wochenzeitschrift. In der Publikation mit 100.000 aufgelegten Exemplaren veröffentlichte Heartfield insgesamt 237 Fotomontagen. Warum Heartfield ein Foto der Tübinger Fensterskulptur verwendete und wie er an dieses gelang, ist nicht bekannt. Er verfügte über eine große Sammlung von Bildern und Artikeln, die er für seine Montagen verwendete.
Der auf dem Hakenkreuz fotografierte Mann ist der Schauspieler Erwin Geschonneck, der sich wie folgt an den Ablauf erinnert: „Es war sehr heiß, als wir die Aufnahmen machten. Wir gingen auf das Dach eines kleinen niedrigen Hauses, auf dem Johnny [John Heartfield] von Genossen ein Holzgestell hatte errichten lassen, denn er brauchte ungefähr die Haltung des Körpers. Dieses Holzgestell war ein Kreuz, natürlich nicht so ein Hakenkreuz wie auf der Montage, sondern ein Holzkreuz und ich mußte mir schon die Mühe machen – und das war ziemlich beschwerlich -, mich daraufzulegen. Es war etwa einen Meter über dem Boden, und ich musste die ganze Zeit nackt darauf liegen, bis er mit seiner Leica alles mehrere Male fotografiert hatte.“

 

Foto: Wolfgang Sannwald

 

Quellen:

Geschonneck, Erwin 1993: Meine unruhigen Jahre. Aufbau Taschenbuch Verlag Berlin. 1. Auflage.

Coles, Anthony 2014: John Heartfield. Ein politisches Leben. Böhlau Verlag.

Mülhaupt, Freya (Hrsg.) 2009: John Heartfield. Zeitausschnitte. Fotomontagen 1918-1938. Akademie der Künste Berlin.

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