Pogromnacht in Tübingen: Zerstörung der Synagoge

Von Jerome Seibert

Am 9. November 1938, während der sogenannten Reichspogromnacht plünderten lokale NS-Funktionäre die Tübinger Synagoge und steckten sie anschließend in Brand.
Die Reichspogromnacht war eine systematische, von der NS-Führung orchestrierte Gewaltaktion gegen Jüdinnen und Juden im gesamten Deutschen Reich. Nach entsprechenden Anweisungen plünderten und zerstörten Angehörige von NS-Organisationen jüdische Geschäfte und Einrichtungen. Gewalttätige Übergriffe waren ebenfalls Teil der Reichspogromnacht: ca. 35.000 jüdische Männer und Jugendliche wurden in den nächsten Tagen in Konzentrationslager verschleppt, mindestens 1000 Menschen starben während oder in Folge des nächtlichen Terrors. Auch gewöhnliche Bürger beteiligten sich an den Ausschreitungen. In Tübingen fiel die örtliche Synagoge den Terroraktionen in dieser Nacht zum Opfer.
Die Tübinger Synagoge wurde 1882 eingeweiht und befand sich in der am Neckar liegenden Gartenstraße in der Nähe der örtlichen NSDAP-Zentrale, dem Wingolfhaus. Ungefähr um Mitternacht betraten zehn Männer und eine Frau das weiß verputzte Gebetshaus, um es zu plündern. Sie raubten die Thorarollen und warfen sie in den Neckar. Unter den Tätern waren unter anderem der NSDAP-Kreisleiter Hans Rauschnabel sowie der damalige Tübinger Oberbürgermeister und NSDAP-Aktivist Ernst Weinmann. Um vier Uhr morgens stiftete Rauschnabel die SA-Männer August Schneider, Eugen Lutz und Christian Katz zur Brandstiftung an. Infolgedessen brannte die Synagoge bis auf die Grundmauern nieder. Die Tübinger Feuerwehr rückte erst sehr spät aus. Zum einen wurde ein Nachbar von SA-Mitgliedern sowie Rauschnabel daran gehindert, die Feuerwehr zu informieren, zum anderen hatte diese Anweisung erhalten, nicht auszurücken. Nach ihrem Eintreffen verhinderte sie lediglich, dass der Brand auf Nachbargebäude übergriff.
Die jüdische Gemeinde wurde gezwungen, für den Abbruch der Synagoge aufzukommen und musste das Grundstück 1940 weit unter Wert an die Stadt Tübingen verkaufen.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges verurteilte das Landgericht Tübingen die Täter Schneider und Lutz 1946 zu einem Jahr und acht Monaten und Rauschnabel 1949 zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus wegen der Brandstiftung. Die Akten des Prozesses gegen Schneider und Lutz geben Einblicke in den genaueren Tatverlauf. Sowohl Lutz als auch Schneider waren geständig. Der dritte Brandstifter, Christian Katz, befand sich zum Zeitpunkt des Verfahrens noch in Kriegsgefangenschaft, weswegen das Verfahren gegen ihn nicht Teil des Prozesses war. Lutz sagte aus, dass Kreisleiter Rauschnabel ihn sowie Katz und Schneider in den frühen Morgenstunden des 10. Novembers auf der Wilhelmstraße angehalten habe. Vom Stuttgarter Gauleiter Wilhelm Murr sei die Weisung erfolgt, „dass sämtliche Synagogen angezündet werden müssen“. Auch im Tübinger Fall bestätigt sich somit, dass es sich bei den Pogromen vom 9. November 1938 nicht um spontane, sondern vielmehr um organisierte Terroraktionen handelte.
Keiner der drei Angesprochenen hinterfragte die Anweisung Rauschnabels, sondern sie setzten sie umgehend in die Tat um. Schneider und Lutz führten zu ihrer Verteidigung an, dass sie Rauschnabels Anweisung als Befehl militärischer Art aufgefasst hätten. Folglich sei es ihnen nicht gestattet gewesen, sich der Brandstiftung zu widersetzen. So sagte Lutz aus: „Als der Kreisleiter zu uns im Auto sagte, dass wir die Synagoge anzuzünden haben, fasste ich dies als den Befehl eines Vorgesetzten von mir auf, den ich auszuführen hatte ohne Widerspruch oder Befehlsverweigerung. Einige Tage später wurde ich mir darüber klar, dass ich mit dieser Tat Brandstiftung begangen hatte, jedoch war ich der Ansicht, dass die Verantwortung die Partei in dieser Sache trägt, da die Anordnung von höchster Stelle aus ging (sic!)“.
Damit verfolgten die Angeklagten eine Verteidigungstaktik, wie sie in zahlreichen anderen Prozessen zur Anwendung kam. Da sie lediglich Befehle ausgeführt hätten, seien sie nicht schuldig, vielmehr müsse ausschließlich in den oberen Rängen der NSDAP nach Schuldigen gesucht werden. Interessanterweise erkannte das Gericht den militärähnlichen Charakter der Anweisung Rauschnabels an, verwarf diesen jedoch zugleich als Verteidigungsgrund. Auch einem militärischen Befehl müsse man sich widersetzen, wenn dieser zu Straftaten aufruft. Schneider und Lutz war klar, dass das in Brandstecken der Synagoge eine solche Straftat darstellte. Erschwerend kam laut Urteil hinzu, dass sie der Aufforderung ohne Zögern oder Widerspruch nachkamen. Dennoch erkannte das Gericht einige Milderungsgründe an, beispielsweise „eine allgemeine Verwilderung der politischen Moral, [welche] bereits das öffentliche Leben beherrschte“. Daher verurteilte es die beiden Angeklagten schließlich zu einem Jahr und 8 Monaten Zuchthaus, was 8 Monate über der Mindeststrafe lag. August Schneider wurden die letzten 152 Tage Haft unter Bewährung erlassen. Eugen Lutz wurden die letzten 52 Tage Haft ebenfalls unter Bewährung erlassen. In Form einer Begnadigung durch das baden-württembergische Justizministerium erhielten sie ihre „bürgerlichen Ehrenrechte“ (passives- und aktives Wahlrecht etc.) vor Ablauf der ursprünglichen Dreijahresfrist zurück.
1949 erhielt die Israelitische Kultusgemeinde das Synagogengrundstück zurückerstattet, welches sie zwei Jahre später weiterverkaufte. Der private Käufer errichtete auf dem Grundstück ein Wohnhaus. Ab den späten siebziger Jahren wurde intensiv debattiert, wie an die Synagoge und ihre Zerstörung erinnert werden sollte.
Heute erinnert das Denkmal Synagogenplatz Tübingen neben dem ursprünglichen Grundstück an die Synagoge sowie an die aus Tübingen vertriebenen und ermordeten Juden und Jüdinnen.

Quellen:

Staatsarchiv Sigmaringen Wü 29/3 T 1 Nr. 1515. Staatsanwaltschaft Tübingen: Strafakten / 1936-1951. Synagogenbrandprozesse.

Foto: Denkmal Synagogenplatz Tübingen, Jonathan Fleck

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