Jugendguides fragten die Nachfahren eines Holocaust-Opfers

„Wäre es Ihnen lieber, wenn das Grab Ihrer Großmutter bei Ihnen in den USA wäre?“ wollte Jugendguide Felicitas bei einer öffentlichen Veranstaltung am 16. Juni 2023 im Landratsamt Tübingen wissen. Sie und 16 weitere Jugendguides stellten diese und andere Fragen an fünf US-Amerikaner in englischer Sprache. Deren Großmutter Alice Simon gehört zu 86 Ermordeten, die im KZ Natzweiler-Struthof 1943 vergast wurden. Der Grund: Die nahegelegene Reichsuniversität Straßburg wollte die  Skelette der Ermordeten präparieren und sie anschließend in ihrer anthropologischen Studiensammlung ausstellen. Deborah Simon Konkol, Joanne Simon Weinberg, Christine Simon Halverson, John Simon und Elisabeth Simon waren mit der Frage von Felicitas bisher noch nie konfrontiert gewesen. Nacheinander positionierten sie sich: Nein, die Überreste sollten in dem Massengrab auf dem Straßburger Jüdischen Friedhof bleiben. Einerseits, weil sie Teil einer Gruppe sei, die dieses Schicksal erlitten hatte, andererseits, weil das auch praktisch kaum machbar sei.

Die Jugendguides hatten einen knappen Monat zuvor während ihrer Qualifizierung drei Tage lang Erinnerungsorte im Elsass erkundet. Die Enkelkinder der Alice Simon waren drei Wochen später dort gewesen. Bei der öffentlichen Veranstaltung machten Fotos diese Orte präsent: Die Gaskammer in der Gedenkstätte Natzweiler-Struthof, wo mittlerweile ein Ring der Alice Simon ausgestellt ist; auf Gedenksteinen vor dieser Gaskammer und auf dem jüdischen Friedhof Straßburg steht der Name von Alice Simon.

Bei der Jugendguides-Qualifizierung von Landkreis und KulturGUT hat die Mordaktion an den 86 Menschen besondere Bedeutung, weil sie mit Tübingen zusammenhängt. Der Straßburger Professor, der sie mit verantwortete, hieß August Hirt. Als alliierte Truppen Frankreich befreiten, floh er im November 1944 nach Tübingen, wo er sich bis zur Befreiung im April 1945 aufhielt. Dann: Zwei Anthropologen hatten die 86 Menschen im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau ausgewählt. Einer von beiden war Hans Fleischhacker, der damals im Rassenbiologischen Institut der Universität Tübingen forschte und lehrte. Dieses Institut hatten seinen Sitz im Schloß Hohentübingen. Das Thema hängt schließlich auch durch den Tübinger Journalisten und Forscher Hans-Joachim Lang mit Tübingen zusammen. Der hat in jahrelanger Arbeit den Namen und Schicksalen der 86 nachgeforscht und seine Ergebnisse in dem Buch „Die Namen der Nummern“ veröffentlicht. Auf seine Initiative hin und die von Reinhard Johler vom Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft hin kamen die fünf Enkelkinder der Alice Simon am 16. Juni nach Tübingen. 120 BesucherInnen hörten sich den Dialog zwischen Jugendguides und Nachfahren der Alice Simon an.

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