Mit Jugendguides auf den Spuren des Mössinger Generalstreiks

Jugendguide Sofie zeigte den etwa 20 Leuten, die am 17. Juni 2023 den Spuren des Mössinger Generalstreiks vom Januar 1933 folgten, einen handschriftlichen Brief. Den hatte ein gewisser Martin aus der Untersuchungshaft an seine Marie geschickt und mit „Rot Front!“ unterschrieben. Der Kampfruf von Kommunisten, die den Generalstreik organisiert hatten, war dreimal in Rot unterstrichen. Die drei Striche und zahlreiche weitere im Schreiben hatte ein Polizist gesetzt. Seine Zensur war der Grund dafür, dass Marie das Schreiben nie erhielt. Es landete in den Ermittlungsakten der Polizei.

Der öffentliche Stadtgang in Mössingen war Teil der diesjährigen Qualifizierung von Jugendguides durch Landkreis Tübingen und KulturGUT e.V. Beim öffentlichen Stadtgang konnten die zehn angehenden Jugendguides anwenden, was sie sich zuvor in einem fünfstündigen Workshop erarbeitet hatten. Öffentlichkeit spielt bei der Jugendguides-Qualifizierung von Beginn an eine große Rolle. Jugendguides erhalten so eine Idee davon, wie gesellschaftlich wirksam ihr Engagement ist. Deshalb gehört zu fast jedem Workshop ein Stadtgang, der in der Tageszeitung und in Gemeindeboten angekündigt wird. Jugendguides, die einen Tag ihrer Freizeit im öffentlichen Interesse einsetzen, gewinnen dabei spürbare gesellschaftliche Relevanz.

Die Mössinger Museumsleiterin Franziska Blum, Kreisarchivar Wolfgang Sannwald, der als Honorarprofessor am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft lehrt und Rhetoriktrainer Nikos Andreadis vom Seminar für Allgemeine Rhetorik hatten die zehn Jugendguides in das Thema eingeführt und ihnen bei ihren Präsentationen geholfen. Ein wichtiges Element dabei war die Quellenarbeit. Kreisarchivar Wolfgang Sannwald hatte archivische Quellen zum Generalstreik aus alten Akten ausgewählt und kopiert. Einzeln oder in kleinen Gruppen arbeiteten die Jugendguides jeweils 3 bis 6 Seiten durch. Eingebunden in den Stadtgang, den Franziska Blum rahmte, präsentierten sie dann ihre Quellen, interpretierten sie und positionierten sich zu ihnen. So intensiv wie die Jugendguides hatte sich noch nie oder nur selten zuvor jemand mit den einzelnen Schriftstücken befasst. Deshalb konnten die Jugendguides etwas Neues bieten. Gleichzeitig konnten sie sich sicher fühlen, weil sie sich auf einen klar abgegrenzten Ausschnitt aus der gesamten Geschichte des Mössinger Widerstands gegen die Machtübergabe an Adolf Hitler konzentrierten. Den hatte der Reichspräsident am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt. Am Folgetag zog ein großer Streikzug durch Mössingen, der als „Mössinger Generalstreik“ deutschlandweit besonders ist.

Eva und Julia hatten sich mit einem anonymen Brief befasst, der kurz nach dem Generalstreik beim Staatsanwalt in Tübingen einging. Die Schrift hatte der Schreiber oder die Schreiberin vermutlich bewusst verzittert, damit niemand ihn oder sie anhand der Schrift identifizieren konnte. Die Jugendguides hatten Mühe damit, diese Denunziation von sieben Mössinger Kommunisten zu entziffern. Das lohnte sich aber, weil sie damit illustrieren konnten: Die Mössinger waren sich im Januar 1933 nicht einig. Zwar beteiligten sich 800 am Streik. Was aber dachten die anderen der etwa 4000 Mössinger? Die Person, die das Schreiben verfasste, forderte scharfe Strafen für die Streikenden. Andere Jugendguides präsentierten Vernehmungsprotokolle, den Ermittlungsbericht der Polizei oder ein Flugblatt, mit dem die KPD zum Massenstreik aufgerufen hatte.

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